>>„Die Reise nach Ver’Laieu an sich gestaltete sich indes schwieriger und langwieriger als geplant. Eine Serie von fürchterlichen Staubstürmen machte die direkte Passage der Ebenen südlich von Ver’Laieu unmöglich“, setzte Alania die Geschichte fort. „Also entschloss sich Vater am Ufer des Marelar-Rivers entlang sich nach Norden zu hangeln. In Flussnähe gab es noch Fauna, die die Staubstürme abschwächte. Auf ihrem Weg besuchten die beiden natürlich den Aquarius-Katarakt. Mutter hat es mir als schönste Naturstätte beschrieben, die sie in ihrem Leben gesehen hatte. Ihre Augen leuchteten, wenn sie darüber sprach und irgendwann werde ich auch aufbrechen und es besichtigen. Aber bevor ich vom Thema abkomme… Schon von weitem konnte man die Hügel der Seguan Range erkennen. In einem an sich flachen Gebiet war es die einzige Erhebung und wenn man wie wir uns von Süden nähert, dann ist es auch eine Art grüne Oase inmitten unendlich anmutender Steppe. Wenn man nicht zu Fuß unterwegs war um durch die steilen, bewaldeten Hänge zu wandern, dann musste man einen gewundenen Weg aus Serpentinen folgen. Vor dem Anstieg hielt Vater angeblich immer an und flüsterte Loro zu, dass er ihm ein besonderes Abendbrot geben würde um ihn für den steilen Aufstieg zu entschädigen. Ich selbst habe es noch nicht erlebt, aber so eng wie die Beziehung von Vater und Loro war, glaube ich das gerne.
Insgesamt sind es 12 Serpentinen bis man auf dem Plateau der Seguan Range angelangt ist. Um einen herum erstreckt sich eine eigene Welt. Dicht gewachsener Wald und Bäume die verschiedenste Früchte trugen und Sträucher an denen man eine Vielzahl von Beeren fand. Mutter war fasziniert von dem Anblick. Das Angebot an Früchten, Beeren und anderen Obst war vielfältiger als sie es vom Markt in Timbuktu kannte. Staunend blickte sie sich um und versuchte alles zu erfassen. Vater hielt den Karren kurz an und stieg ab um einen Apfel von einem tiefhängenden Ast zu pflücken. Er warf ihn Nila zu und kletterte wieder auf den Karren. Mutter blickte ihn etwas verdutzt an und fragte ihn, ob die Früchte nicht jemandem gehörten? In Timbuktu oder in dem Dorf, in dem sie aufgewachsen war, war es nicht üblich einfach so Äpfel von den Bäumen Fremder zu nehmen. Doch Vater schüttelte nur den Kopf, „Solange man in Maßen und nur für sich eine Frucht erntet, gilt es hier bei den Filari als vollkommen normal. Es ist diese Art von Einstellung die mich dazu gebracht hat mich dem Stamm anzuschließen.“
Für uns alle sind das Bräuche die wir seit langer Zeit schätzen, aber wir dürfen nicht vergessen, dass nicht alle Menschen so denken. Deswegen bin ich dankbar dafür als Filari und insbesondere als ihre Tochter geboren worden zu sein. Viel größeres Glück kann man wohl kaum haben. Abu schaffte es Nila jeden Tag aufs Neue zu faszinieren und zu überraschen. Das war einer von vielen Gründen warum Mutter ihn so sehr geliebt hat. Während sie weiter auf dem Zyklenpfad, tiefer in den Wald, fuhren kamen sie an vielen Menschen vorbei die ihnen freundlich zuwinkten und grüßten. Als der Wald am Horizont lichter wurde und man erste Behausungen sah, waren schon viele auf dem Dorfplatz und hießen die beiden Willkommen. Sie wurden herzlich empfangen und abends gab es ein ganzes Wildschwein für das ganze Dorf. So etwas machte man damals wie heute nur zu besonderen Anlässen oder Feiern. Mutter sagte mir, dass sie sich während ihres Aufenthaltes in Ver’Laieu etwas unwohl fühlte. Matri Midai blickte sie angeblich immer böse an, wenn Abu es nicht mitbekam. Mutter war immer etwas übersensibel was diese Dinge anging, deswegen gab ich nie viel darauf. Aber letztes Jahr hat uns Lauranne, Midais Tochter, hier in Qulatar besucht. Und während eine Gespräches kamen wir auf das Thema zu sprechen.
Und Midai hatte ihr, kurz vor ihrem Ableben, noch gesagt, dass es ihr größter Fehler war Abu niemals gesagt zu haben wie sie wirklich fühlte. Denn als sie sich überwunden hatte, kam er mit Nila zusammen ins Dorf und er strahlte vor Glück. Da wusste sie, dass sie keine mehr Chance hatte. Deswegen sollte Lauranne niemals ihre Gefühle hinter ihrer Rolle als Matri zurückstellen, hatte Midai ihr gesagt.<<
Alle im Raum kicherten und lachten während Alania so aus dem Nähkästchen plauderte. Doch bevor sie weiteredete wurde es plötzlich still im Raum. Die Blicke wandten von Alania zum Flur in ihrem Rücken. Dort stand Abu mit leicht gekrümmtem Rücken. Er hielt sich an seinem Gehstock fest und sein Gesichtsausdruck sah sehr angestrengt und verbissen aus. Mit kleinen, langsamen Schritten bewegte er sich auf Alania zu. Sie wollte aufstehen und ihrem Vater stützen, aber er hielt kurz inne und winkte nur ab mit einem erkämpften Lächeln im Gesicht. Seine Bewegungen schienen allen Anwesenden noch langsamer als sonst. Alania rutschte zur Seite und Mira setzte sich auf ihren Schoß um Platz auf den weichen Kissen zu machen. Nachdem er sich niedergelassen hatte, hielt er wieder einen Moment inne bis wieder das, für ihn typische, warme und freundliche Lächeln auf seinem Gesicht erschien. „Du sollst doch nicht über alle unsere kleinen Geheimnisse reden, Ina“, sagte Abu und griff nach Alainas Hand. „Aber ich denke, ich werde die Geschichte weiterzählen, bevor es für mich oder die Matris noch peinlicher wird“, fügte er lachend an. Die Anspannung im Raum löste sich damit schlagartig auf und ein leises Kichern ging durch die Reihen.
>> Die Alten unter euch werden sich sicher noch an unsere letzte Nacht in Ver’Laieu erinnern. Es wurde gefeiert und es mangelte nicht an Früchten, Fleisch und Brot. Eine Opulenz wie ich sie seitdem, bei uns Filari, nie mehr erlebt habe. Aber immerhin war es auch das Abschiedsfest für uns, die wir uns auf den Weg machen sollten eine neue Siedlung zu gründen… <<
Plötzlich sprang Mira auf und rief laut, „Von dem Fest hat mir meine Mutter oft erzählt.“ Abu blickte sich um, die Alten schwelgten in Erinnerungen und die Jungen hatten die Geschichten von diesem einen großen Fest einmal zu oft, von ihren Eltern, gehört. Abu lachte laut während er sich umschaute. „Und der Rest ist Geschichte. Wir zogen nach Westen und haben dieses Fleckchen Erde zu unserer Heimat gemacht. Seitdem sind viele von euch geboren worden“, Abu drückte sanft die Hand seiner Tochter, „Und wir haben hier Tag für Tag Geschichte geschrieben. Unsere Geschichte. Und wir werden unseren Weg weitergehen. Und das Wichtigste von allem: Auch morgen habe ich noch Geschichten zu erzählen, die ihr noch nicht gehört habt.“